Die Heldenreise – eine universelle Erzählstruktur

Die Heldenreise ist eine uralte Erzählstruktur, die wir überall auf der Erde finden. Sie wurde von dem Mythenforscher Joseph Campbell entdeckt und von Christopher Vogler für Hollywood weiterentwickelt. Doch wieso sollte die Mehrzahl unserer Geschichten in eine universelle Schablone passen? Ist das nicht langweilig und stereotyp?

Diesem Vorwurf begegnet man immer wieder, wenn man sich als Autor mit Erzählstrukturen beschäftigt. Doch es gibt einen triftigen Grund, warum ich die Heldenreise nicht für eine Platitüde halte. Vielmehr bin ich der Meinung, dass jeder ambitionierte Autor ihre Dynamik zumindest verstanden haben sollte.

Universelle Erfahrungsmuster

Menschen haben sich schon immer Geschichten erzählt. Wir lernen aus Geschichten. Ihre Helden sind unsere Rollenvorbilder. Geschichten lassen uns stellvertretend Erfahrungen machen, die wir in unserem normalen Leben nicht machen können.

Ich erinnere mich noch lebhaft an den Moment, in dem mein persönlicher Groschen fiel. Er fiel so heftig, dass es regelrecht schepperte. Ich hatte mich gerade intensiv mit der Heldenreise auseinandergesetzt, als ich mich in einem Seminar zum Thema „Krisenintervention“ wieder fand.

Die Seminarleiter legten uns dar, dass Menschen – ebenso, wie sie in Phasen trauern – auch durch klar identifizierbare Phasen gehen, wenn sie eine Krise durchleben. Plötzlich wurde ich stutzig. Das Gesagte kam mir so bekannt vor!

Ich begann zu vergleichen – und war sprachlos. Die Phasen einer Krise und die Stadien der Heldenreise werden zwar unterschiedlich benannt, aber inhaltlich sind sie identisch.

Krise (nach Roller Coaster Modell) Heldenreise (nach Vogler)
1. Phase: Vorahnung; Schock, Konfrontation gewohnte Welt, Ruf zum Abenteuer
2. Phase: Leugnung, Verdrängung, Versagen, Trauer Weigerung
3. Phase: Anstrengung, Mobilisierung aller Kräfte, Bearbeitung Hilfe durch Mentoren
4. Phase: Neuorientierung, Sorge, Selbstzweifel Überschreiten der 1. Schwelle (jetzt gibt es kein Zurück mehr)
5. Phase: Wut Erste Bewährungsproben, Freunde und Feinde
6. Phase: Depression, Aussichtslosigkeit Tiefste Höhle (gefährlichster Punkt)
7. Phase: Hoffnung Entscheidende Prüfung (Konfrontation + Überwindung des Gegners)
8. Phase: Enthusiasmus Held findet Schatz/Elixier oder „ergreift das Schwert“
9. Phase: Überwindung, Krise überstanden Todesmoment, Auferstehung, Rückweg
10. Phase: Neubeginn Rückkehr und Belohnung/Anerkennung

Die Heldenreise – Geschichte einer Krise

Die Heldenreise ist nichts anderes als eine altmodisch verpackte Krisenbeschreibung! Nicht umsonst wird Autoren immer wieder eingebläut: Geschichten entstehen durch Konflikte. Und Konflikte interessieren, ja mehr noch, fesseln Leser.

Genauer gesagt: wie der Held die Konflikte löst und überwindet, interessiert den Leser. Auf diese Weise kann er von den Erfahrungen des Helden profitieren. Das ist der eigentliche Grund, warum wir von Geschichten nie genug bekommen.

Wenn das für einen Autoren kein Anlass ist, sich mit der Heldenreise zu beschäftigen! Ich persönlich liebe die Heldenreise. In ihr verbindet sich universelles Wissen, Wachstum und unser unersättlicher Hunger nach Neuem. Die Heldenreise ist Psychologie vom Feinsten.

Genauso liebe ich Menschen. Und ihre Geschichten. Kein Wunder, dass die Heldenreise auch in der Persönlichkeitsentwicklung verwendet wird. Sogar die Werbung bedient sich ihrer. Heute werden uns keine Produkte mehr verkauft. Nein, sie verkaufen uns Geschichten. Und sie wissen, warum.

Die Heldenreise ist überall. Sie widerfährt uns nicht einmal im Leben, sondern wieder und wieder. Dir, mir – uns allen. Und sind wir von einer Reise endlich heimgekehrt, wartet auch schon die nächste auf uns.